RWTH Aachen University | 52062 Aachen
- Relevanz
- Titeltreffer
- Datum
RWTH Aachen University | 52062 Aachen
Wenn man in Mülheim an der Ruhr Polymerchemie beruflich betreibt, steckt man unweigerlich mitten in einem Spannungsfeld, das mit nüchternem Bildungsweg wenig zu tun hat. Natürlich: Der übliche Weg geht klassisch über ein Chemiestudium, ein paar einschlägige Praktika in der Forschung, vielleicht der Promotion – man will ja mithalten im Revier. Aber schon nach kurzer Zeit merkt man, dass hier, im Herzen der Forschungslandschaft, sämtliche Routinen ihren eigenen Rhythmus entwickeln. Beim ersten Kaffee morgens im Labor fragt man sich: Bin ich heute noch Wissenschaftler – oder Teil eines technischen Innovationssystems, das zwischen industrieller Vorgabe, Umweltvorgaben und globalem Preisdruck irgendwie seine eigene Identität sucht?
Eines wird einem schnell bewusst: Das Rollenprofil eines Polymerchemikers in Mülheim beschränkt sich selten auf die reine Syntheseplanung oder Polymerscreenings im Reagenzglas. Die regionale Nähe zu traditionsreichen Industriebetrieben, aber auch zu Forschungsinstituten wie MPI oder Fraunhofer, verwebt Entwicklung, Anwendung und Skalierung so eng, dass man morgens noch an Polyolefin-Recepturen schraubt und mittags schon am Konferenztisch mit Kollegen aus der Prozesstechnik über die Lebensdauer von Hochleistungsfolien diskutiert. Wer glaubt, der Alltag bestünde nur aus Titrationen und Zugversuchen, merkt bald: Die besten Ideen entstehen irgendwo zwischen Whiteboard und Viertages-Messlauf. Und: Wer nur „Labor“ kann, bleibt mittelfristig außen vor. Spätestens wenn die Skalierung ruft, werden Fähigkeiten in Projektmanagement und Anlagenverständnis plötzlich verflucht praxisrelevant.
Manchmal, wenn ich ehrlich bin, frage ich mich: Ist der Sprung ins Mülheimer Polymerfeld mutiger Schritt oder gut kaschierte Sehnsucht nach Berechenbarkeit? Denn die Branche erfindet sich gerade wieder einmal neu – und das schneller, als so mancher Gleichgewichtskollege im Laborfetischismus verdauen mag. Mit Nachhaltigkeit, Mikroplastik-Diskussion und regulatorischem Gegenwind im Nacken, kippen die einstigen Gewissheiten. Wer als Einstiegskraft oder erfahrene Fachkraft in diese Landschaft stößt, muss vor allem eines mitbringen: dicke Haut und Wandlungsbereitschaft. Die „Mülheimer Lücke“ – ein Begriff, der gern unter den alten Hasen flüstert wird – meint dieses leicht schwankende Feld zwischen etablierten Produktionsketten, Grundlagenforschung und der beinah manischen Suche nach dem nächsten recyclingfähigen Werkstoff. Wer also mit steifer Denkhaltung daherkommt, wird rasch von der Realität eingeholt. Oder, na gut, gelegentlich auch vom hohen Krankenstand in der Pilotanlage – aber das ist ein anderes Kapitel.
Finanziell? Angesichts der Bandbreite zwischen Startups, Forschungsinstitut, Mittelständlern im Chemiepark und globalen Branchengrößen ist alles drin – wenn auch nicht immer alles fair verteilt. Berufseinsteiger in Mülheim beginnen typischerweise bei etwa 3.600 € bis 4.000 €; mit Erfahrung und projektverantwortlicher Rolle kann das Gehalt ohne Weiteres in Richtung 5.000 € bis 6.500 € steigen – Ausreißer gibt es in beide Richtungen. Viele unterschätzen, dass der Wert der Arbeit oft nicht am Gehaltszettel hängt, sondern daran, wie viel Mitbestimmung und Freiheit im Tagesgeschäft tatsächlich gelebt wird. Wer am großen Rad drehen will, sollte früh lernen, für eigene Forschungsideen zu argumentieren – und vor allem auch mal gegen den Strom zu schwimmen.
Was ich der nächsten Generation rate? Wachsam sein, Regionalität als Vorteil erkennen, aber keine Nische zu eng sehen. Kaum ein Ort wie Mülheim verknüpft klassische Chemiebetriebe, dynamische Startups und Großforschung so doppelbödig – nur selten konkurrieren Hierarchien und fachliche Sturheit derart augenzwinkernd miteinander. Klar: Die Weiterbildungslandschaft ist üppig, von Werkstoffkunde über auswärtige Managementschulungen bis zur Fachexpertise im Umweltrecht. Das hilft – aber letztlich bleibt eines: Neugier, ein Stück Dickfelligkeit, und Lust auf (scheinbar) widersprüchliche Wege. Am Ende sind es jene, die im Labor den Kopf frei behalten und auf der Etage nicht alles für bare Münze nehmen, die ihren Platz finden – irgendwo zwischen Polymerkette und Ruhrpott-Charme.
Das könnte Sie auch interessieren