Media University of Applied Sciences | 10115 Berlin
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Media University of Applied Sciences | 10115 Berlin
Wer als Chefredakteur in Berlin arbeitet – oder ernsthaft darüber nachdenkt – taucht ein in einen Kosmos, in dem das Wort „dynamisch“ viel zu harmlos klingt. Die Medienhauptstadt schnauft, poltert und pendelt zwischen kreativen Freiräumen in Kreuzberg, digitalem Start-up-Geist um den Spreebogen und den starren Mauern etablierter Verlagshäuser. Kaum irgendwo liegt das journalistische Tagesgeschäft dichter am gesellschaftspolitischen Puls als hier. Aber was heißt das konkret für Berufseinsteiger, Routiniers auf dem Absprung – oder jene, die sich zu Höherem (und ganz schön anstrengendem) berufen fühlen? Ich wollte es genauer wissen.
Viele stellen sich vor, ein Chefredakteur sei vor allem eine Art intellektueller Dompteur: Strippenzieher im Hintergrund, federführend in der Themenfindung, mit der Lizenz zum Durchregieren. Die Praxis? Nun, das Bild stimmt manchmal – meistens aber nicht. Tatsächlich gleicht die Chefredaktion eher einem Schaltpult, an dem unzählige Signallichter blinken, hetzen, fordern. Inhalte kuratieren, Teams führen, Budgets verantworten, Politik und Anzeigenkunden beschwichtigen: Der Job verlangt nicht nur journalistisches Urteilsvermögen, sondern Konfliktresistenz, digitale Affinität und (man glaubt es kaum) die Fähigkeit, gelegentlich über den eigenen Schatten zu springen. Machtgehabe bringt wenig, Empathie und Pragmatismus dagegen umso mehr – vor allem im Berliner Kontext, wo das Klima zwischen Progressiv-Kollektiv und Traditionsbetrieb kippen kann wie ein launischer Aprilmorgen.
Der Berliner Medienarbeitsmarkt ist dicht besiedelt und überraschend experimentierfreudig. Medienhäuser, Special-Interest-Magazine, digitale Newsrooms, Kulturredaktionen – alles da, oft in unmittelbarer Nachbarschaft. Der Trend der letzten Jahre? Kleinere Redaktionen, größere Reportage-Freiheiten auf der einen Seite, rigide Sparmaßnahmen und erhöhte Multitasking-Erwartungen auf der anderen. Vieles verdichtet sich, Workloads nehmen zu, Entspannungspausen werden spürbar seltener. Wer meint, ab Chefredaktion habe man ausgesorgt, irrt gewaltig – vor allem in Berlin, wo Redaktionen zuweilen im Monats- oder Quartalstakt reorganisiert werden. Ich habe Kolleginnen erlebt, die innerhalb eines Jahres drei unterschiedliche Titel auf der Visitenkarte trugen, bei gleichbleibendem Kontostand – und nicht selten sinkender Planbarkeit.
Und trotzdem, oder gerade deshalb: Diese Stadt wirkt wie ein Katalysator für redaktionelle Experimente – sei es mit neuen Bezahlmodellen, datenbasiertem Storytelling oder Echtzeitkommunikation via Social Media. Wer das Steuer ergreifen will, kann tatsächlich etwas bewegen, vorausgesetzt, er oder sie scheut weder Widerspruch noch Dauerpräsenz. Gerade Berufseinsteiger und wechselwillige Redakteure erleben das oft als doppeltes Spiel: Innovation gilt als Muss, Fehlerkultur aber bleibt Theorie – zumindest im Alltag. Was ich schade finde, denn man muss schon Nerven haben, sich zwischen Avantgarde-Enthusiasmus und Alt-Redaktionslogik nicht zerreiben zu lassen.
Worüber erstaunlich wenig gesprochen wird, ist das Gehaltsniveau – vermutlich, weil es so frustrierend vielschichtig ist. Das Spektrum in Berlin reicht von knapp 3.200 € für Berufseinsteiger bis zu 6.000 € oder mehr für erfahrene Chefredaktionen klassischer Verlagstitel. Wer Teil der Digital-Avantgarde ist oder für größere Marken arbeitet, kann gelegentlich mehr verlangen. Doch das sind eher Ausnahmefälle. Fluktuation, Projektverträge, temporäre Führungspositionen – gerade der Berliner Markt ist häufig volatil, Honorare variieren spürbar. Nicht zu vergessen: Die Entwicklungspfade sind hier selten linear, eher labyrinthisch. Wer sich weiterbildet (ob datenjournalistisch, crossmedial oder in Führungsfragen) wird schneller zum Innovationsanker als zum Verwaltungschef, was – so ehrlich muss man sein – durchaus ambivalente Folgen haben kann.
Vielleicht klingt das alles nach Chaos, Unsicherheit, ja: gelegentlicher Überforderung. Aber genau das ist Berlin – und vielleicht auch das Bild, das dieser Beruf hier am deutlichsten zeichnet. Für Neulinge, Aufsteiger, Umsteiger: Vieles ist möglich, wenig ist garantiert, die Herausforderungen sind greifbar, die Chancen meist unscharf. Klingt nach Risiko? Ist es, ganz ohne Frage. Aber sagen wir es so: Wer Lust hat, mitten im Getöse die Stimme zu behalten, findet in Berlins Redaktionen mehr als nur einen Titel auf der Visitenkarte. Man findet, wenigstens für eine Weile, den Nerv der Zeit. Oder das, was davon übrig bleibt.
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